Süddeutsche Zeitung | 04.10.2003

In der Bedürfnisanstalt
Politisches Kabarett, frisch wie selten: Dieter Hildebrandts Abschied vom "Scheibenwischer"

Am Ende war es ein einziges alttestamentarisches Donnergrollen. Ein fulminantes Solo des vortrefflichsten unter allen möglichen Hildebrandt-Nachfolgern: Georg Schramm. Es war eine wütende Abrechnung mit den "politischen Hampelmännern, die uns Demokratie vorspielen dürfen". Mit denen, die bei den "Klofrauen Illner und Christiansen" oder an der "emotionalen Pissrinne von Kerner und Beckmann" ihre Sprechblasen entleeren. Da war das ohnehin schon beachtliche Scheibenwischer-Finale an seinem Höhepunkt angelangt.

Schramms kalkulierter Zornausbruch wandte sich gegen die "öffentlich-rechtlichen Bedürfnisanstalten", in deren Quotenschüssel jetzt auch das politische Kabarett auf immer und ewig weggespült zu werden droht. Er wetterte gegen den "Urnenpöbel", weil dem das Interesse an politischen Inhalten verloren gehe. Fast wollte man vor dem Fernseher in Deckung gehen, so kräftig schleuderte Schramm seine Feuerblitze.

Und plötzlich endete das politische Fernsehkabarett wieder dort, wo es in seinem Frühling einmal war - zu Zeiten von Kiesinger, Strauß oder dem BR-Fernsehdirektor Oeller (Abschalten des Scheibenwischers am 22. Mai 1986 wegen "nicht gemeinschafts- verträglicher" Elemente). Zurück in einer mitreißenden Unängstlichkeit. In einer unbestechlichen Ehrlichkeit gegenüber den regierenden Freunden der Sozialdemokratie, die lustvoll zerzaust wurden. Alles in allem: Viel bissiger als der sich derzeit in stumpfer Selbstgenügsamkeit erschöpfende Harald Schmidt.

Die Scheibenwischer-Gala in einem Zelt unweit des Kanzleramtes war - trotz der ungehörigen Zwangsverrentung durch die ARD - ein würdiger Abschied für den 76-jährigen Dieter Hildebrandt ("Wer hätte gedacht, dass das Fernsehprogramm heute so ist, wie wir immer behauptet haben?"). Doppelt so lang wie sonst durfte er unter anderem über einen bayerischen Richter herziehen, der statt brüllender Neonazis lieber einen gegen Neonazis demonstrierenden KZ-Überlebenden verurteilt hatte. Boris Becker ("Becker hinterzieht nach Zug") bekam genauso sein Fett ab, wie Leni Riefenstahl (Schramm: "Der Führer hat sie zu sich genommen") oder Rudi Völler ("Was wollte er eigentlich sagen?").

Die Ehre, erwähnt zu werden, erfuhren auch Barnabas Schill ("Shitbull", nannte ihn Volker Pisper) und die sich unter der Zeltkuppel vor Lachattacken nur so wegschmeißende Gesundheitsministerin. Allerdings war die Ulla-Schmidt-Parodie von Mathias Richling nur teilweise originell.
Die vielleicht schärfste Nummer war die Attacke auf das Millionen-Trio Ackermann, Zwickel, Esser und seinen Freunden in der Politik. "Ackermann hat unser volles Vertrauen, sagt Eichel. Das war ein Bewerbungsgespräch." Dass Hildebrandt seinen Texthänger ausgerechnet bei der Frage hatte, welcher gesellschaftliche Wert dem Rentner zukommt - es passte gut. Auch gab es ein rührendes Rezitativ von Richard Rogler ("Ein Unding, dass dieser Mann vom Fernsehschirm verschwindet") und einen Dieter-Blues von Konstantin Wecker ("Er träumt den großen Traum, den vom Verstand"). Weinen, Gröhlen, Klatschen, Verneigen. "Denn unsere Feinde singen unsere Lieder. Und wenn man Pech hat, klatschen sie mit."

Wie lange ARD-Programmdirektor Günter Struve noch mitklatschen wird? Es soll ja weitergehen, mit dem Fernsehkabarett. Wahrscheinlich nach 23 Uhr. Und Hildebrandt darf wieder kommen. Als Gast von Bruno Jonas? Tatsächlich ist eher das zu befürchten, was aus Georg Schramm am Ende der 145. Sendung herausbrach: Nach der durch Hildebrandts Abgang begonnenen Zeitenwende droht ein unkontrollierter Niedergang, auch des zuletzt wegen seiner Zahnlosigkeit belächelten - Fernsehkabaretts.

Erst auf Trauerfeiern spürt man, was wirklich fehlt.

Martin Zips